Autor: Heinz-Jürgen Althoff 
Medium: UNITEDINTERIM Blog
Datum: 29.10.2018

Immer wieder werde ich von Personalberatern und Interim Management-Providern nach meiner Branche gefragt – und immer wieder kann ich diese Frage nicht so beantworten, wie mein Gegenüber es erwartet. Warum? Weil die Branche zwar etwas sehr Wichtiges ist für Marketing, Vertrieb, Einkauf und natürlich auch für das Netzwerk.

Ingenieursarbeit besteht dagegen in der Nutzung physikalischer Gesetze, um Produkte zu entwickeln und herzustellen. Diese Physik aber ist branchenunabhängig. Ich selbst habe schon oft erlebt, dass ich Erfahrungen aus einer Branche mit großem Erfolg in eine andere übertragen habe. Der Blick über den Tellerrand verhindert zuverlässig Betriebsblindheit und trägt für den jeweiligen Anwendungsfall neue Ideen zur Lösungsfindung bei.

Dass die Menschen im Rahmen ihrer Individualität natürlich gleich sind, dass sich Vorgänge in Teams und andere Führungsthemen in allen Branchen gleichen, steht ohnehin außer Frage. Das habe ich an anderer Stelle thematisiert und werde erneut darüber schreiben. Hier aber geht es um allein darum, dass die Technik nicht branchenspezifisch ist.

Für denjenigen, der Interesse an Details hat, hole ich ab hier etwas aus. Wem das zu technisch wird, empfehle ich: Überfliegen Sie das Folgende – und gehen Sie zum letzten Absatz mit der Zusammenfassung.

Technische und physikalische Regeln sind überall gleich!

Die Regeln der Technik und der Physik sind in allen Branchen dieselben. Zwar braucht der Entwickler sicher die Anforderungen an seine Produkte, aber die sind vom Kunden, Vertrieb oder Produktmanager vorgegeben und dokumentiert. Der Rest, die Umsetzung mittels z. B. den Gesetzen der Mechanik, Hydraulik, Thermodynamik, Elektro- und Informationstechnik, unterscheiden sich in – nichts!

Ich gehe sogar noch weiter und konstatiere, dass sogar in vermeintlich sehr unterschiedlichen Technikgebieten dieselben Gesetze gelten! Stellvertretend sei hier genannt das Ohm’sche Gesetz, das in seiner allgemeinen Formulierung nicht nur für Strom, sondern u. a. auch Wärme- und Stoffübertragung gilt  – mit einer kleinen Abweichung auch für Hydraulik und Pneumatik. Die allgemeine Formulierung lautet: Transport (Strom, Wärme, Material) = Potential (Spannung, Temperaturdifferenz, Konzentrationsgefälle, Druck) / Widerstand. Daraus folgt, dass man einen elektrischen Schaltplan z. B. auch als Hydraulikschaltbild auffassen kann. Kaum zu glauben, wie dieses Analogon manchen gestandenen Maschinenbauern hilft, ihre Scheu zu überwinden und auch kompliziertere Schaltpläne zu entziffern!

Scherzhaft gilt dieses Grundgesetz sogar für den Kauf eines Autos: Das Potential ist der Wunsch (des Ehemannes) nach dem möglichst perfekten Auto, der Widerstand ist das Interesse (der Ehefrau) an überschaubaren Kosten. Daraus ergibt sich am Ende die Menge Geldes, das an das Autohaus überwiesen wird!

Noch viel mehr als in der Entwicklung gelten dieselben physikalischen (und organisatorischen) Gesetze in der Produktion. Es ist unerheblich, ob in einer Montagelinie Lenkungen, medizinische Geräte oder Rasierapparate hergestellt werden: Es geht immer um möglichst hohe Ausbringung mit bester Qualität zu geringen Kosten, also Lean Management, Poka Yoke, Automatisierung uvm..

Kritiker werden einwenden, es gebe manch branchenspezifische Vorgehensweisen und Prozesse. Das stimmt. Automobil- und Medizintechnik arbeiten nach verschiedenen Normen, zum Beispiel im Bereich des Qualitätswesens. Bei genauerem Hinsehen aber entpuppen sich die Normen und Prozedere in ihrer Logik als sehr ähnlich, wenn auch der Fokus etwas verschieden sein mag. Immer aber ist es kein Fehler, sich bei anderen Branchen mit neuen Ideen und Anregungen zu bedienen.

Insider mögen entschuldigen, dass ich hier nicht die NACE-Klassifikationen nenne, sondern mich der umgangssprachlichen Begriffe bediene.

Zuordnung zu Branchen nicht immer eindeutig

Ein weiterer Aspekt: Die Zuordnung zu der jeweiligen Branche ist mehrdeutig. Einige Branchen orientieren sich am Produkt, z. B. Automobilindustrie, Maschinenbau und Medizintechnik. Andere (Unter-) Branchen orientieren sich an den an den verwendeten Materialien wie die Kunststoff oder Metall, in der nächsten Stufe sogar am Verfahren wie Drehen, Schleifen oder Gießen.

Hier gibt es Überschneidungen, denn sowohl Autos als auch medizinische Apparate bestehen aus Metall, Kunststoff und Elektrik/Elektronik. Dazu gibt es technische Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Branchen  – sowohl bei Kunststoff- als auch bei Aluminiumguss spielen Strömungen, Abkühlung, Erstarrungsverlauf und Materialschrumpfung eine wesentliche Rolle für das Endprodukt. Besonderheiten wie die unterschiedlichen Temperaturen und Drücke oder etwa Korundbildung beim Aluminium sind natürlich nicht wegzudiskutieren, aber sehr schnell erlernbar. Die Gemeinsamkeiten sind auf jeden Fall größer.

Wer in der Kunststofffertigung eines Automobilzulieferers arbeitet, kann also als Branchen mindestens Automobilindustrie als auch Kunststoffverarbeitung nennen. Dagegen hat der Spezialist für Mechatronik, die sich mit mechanischen und anderen, durch Elektronik gesteuerten Geräten befasst, keine eigene Branche. Wie auch? Diese komplexen Systeme gibt es in sehr vielen Branchen, z. B. in Automobilen, Robotern, Fertigungsstraßen, Haushaltsgeräten, Spielzeug  – kurzum: heutzutage überall, wo sich etwas bewegt!

Ich auf jeden Fall habe festgestellt, dass sich technische Lösungen und Ideen sehr gut von einer Branche auf die andere übertragen lassen: Eine Lenkung ist zwar etwas anderes als ein Kunstherz, eine Banknotenzählmaschine, eine Spritzgussmaschine oder eine Fertigungsstraße. Die technischen Prinzipien und Vorgehensweisen unterscheiden sich allerdings nur marginal: Es gibt Antriebe wie Elektromotoren, Spulen oder Hydraulikzylinder, Sensoren für Bewegung, Druck und Temperatur, Mechanik wie Lenksäulen, Waschtrommeln oder Pumpen, dazu die heutzutage allgegenwärtige Elektronik. Nicht zu vergessen, die Verbindungen zwischen ihnen wie Leitungen und Stecker. Dazu kommen eventuell noch übergeordnete Computersysteme bis hin zu Industrie 4.0.

Gefragt nach seiner Branche, was also antwortet ein Ingenieur, promoviert in Medizintechnik, anschließend in der Automobilzulieferindustrie Systemingenieur und Key Account Manager für hochsicherheitsrelevante Lenksysteme, im Laufe seiner Karriere ebenfalls verantwortlich für Fahrzeuglüfter (Aerodynamik, Akustik, Kunststoffspritzguss), Steckverbinder, auch in intensivstem Kontakt mit der Fertigung im eigenen Haus und bei Kunden und Zulieferern (Montage, Metall, Kunststoffspritzguss, Aluminiumdruckguss, Elektronik, …)?

Die Branche Automotive ist mir zu eng und zu weit zugleich. Natürlich stimmt der Stallgeruch, ich kenne die grundlegenden Organisationsprozesse. Aber der Begriff ist zu eng, weil die Technik nicht spezifisch ist. Zu weit, weil ich im Bereich Automotive nicht alle Produkte kenne. Mechatronik? Das ist wie oben ausgeführt, keine eigene Branche. Antriebstechnik? Zu speziell. Aluminiumdruckguss? Sicher nicht in der Entwicklung, aber einen gordischen Knoten wegen Lieferengpässen habe ich hier schon entwirrt, wo Kunde und Lieferant keine Lösung fanden. Hier hat mir die organisatorische Erfahrung aus dem Automotive-Bereich so viel geholfen wie mein technisches Wissen aus dem Kunststoffbereich. Aber als Branchenkenntnis würde ich es nicht angeben. So bleibt als Antwort auf die Frage nach meiner Branche letztendlich doch nur Automotive mit wortreichen Zusatzinformationen, aber zufrieden damit bin ich nicht. Das Hadern geht weiter…

Zusammenfassung:

Die Branche ist für einen Ingenieur keine wirklich aussagekräftige Angabe, da Gesetze der Physik branchenübergreifend Gültigkeit haben. Zudem ist die Systematik der Wirtschaftszweige nicht wirklich eindeutig, es gibt viele Überschneidungen. Also wäre es zu wünschen, dass die Branchenzugehörigkeit bei der Einstellung oder Beauftragung nicht den Stellenwert bekäme, die sie nach meiner Erfahrung heute leider hat. Vielmehr sollten Entscheider für die Besetzung einer Position/eines Mandats sich eher davon leiten lassen, ob der jeweilige Interessent die grundlegenden physikalischen Gesetzmäßigkeiten verstanden hat, die für die jeweilige Position wirklich relevant sind. Das ist für Technikfremde vielleicht mit etwas Anfangsaufwand verbunden, der sich allerdings mehrfach auszahlt.

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