Man hört heute ständig, die Zahlen seien ja wieder so niedrig. Inzwischen steigen sie wieder, aber nur ein bisschen. Also müsse man lockern, was immer das heißen mag. Stimmt das?

Oder hängt das damit zusammen, dass das Zahlen- “Gefühl“ der Öffentlichkeit nicht ausreicht?
Ich meine ja, und das reicht vom Mann auf der Straße bis hin in die höchsten Kreise Gesellschaft, der Politik, Kunst, Medien und sogar Ökonomie. Schließlich ist es ja Zeitgeist, sich mit seinen mäßigen Schulerfolgen in Mathematik und Physik geradezu zu brüsten.

I Exponentielles Wachstum, ein Erklärungsversuch.

Was nun folgt, ist beileibe keine Mathematik. Die vier Grundrechenarten, oft genug hintereinander angewendet, reichen aus. Als Gipfel die Zinseszinsrechnung.

COVID-19 funktioniert nämlich wie die Zinseszinsrechnung: Ein wenig mehr Zinsen, und der Bauherr ist pleite. Man redet von wenigen Prozentpunkten, meist einstellig. Das Ergebnis ist das, was rauskommt, im Fall der Zinseszinsrechnung die zu bezahlenden Zinsen.  Hier hinkt der Vergleich zum Kontostand, denn Menschen werden wieder gesund oder sterben.

Die Reproduktionszahl wird in absoluten Zahlen angegeben. Die sind genau um den Faktor 100 kleiner: 0,1 = 10%. Natürlich wird 0,1 aber viel kleiner empfinden als 10%. Das menschliche Hirn reagiert halt so. Die Zahlen sind absolut gesehen aktuell niedrig, das suggeriert geringe Gefahr. Aber bei 20% pro Woche kann auch eine kleine Zinslast explodieren. Wobei ein steigender Kontostand toll ist, eine steigende Inzidenz eher nicht.

Was heißt das für die Reproduktionszahl?

Die Differenz der Reproduktionszahl zur eins bezeichnet dabei nichts weiter als den Zinssatz.
Beispiele: 1,1 pro Woche entspricht also 10%, ebenfalls pro Woche. 0,9 entspricht -10%.

Die Reproduktionszahl wird also nicht in Prozent angegeben, sondern als Wert. Sie erscheint subjektiv also hundertmal kleiner als Zinsen, und es gibt nur Werte größer Null.

Ein intuitiver Vergleich beider Werte ist dadurch unmöglich. 1,1 klingt viel kleiner als 10%. Aber das täuscht alle, die nicht täglich mit diesem Phänomen umgehen.

Was beeinflusst die Reproduktionszahl?

Die Reproduktionszahl hängt nun nicht nur vom Virus ab, sondern vor allem vom Verhalten eines jeden infizierten Menschen (und der Immunitätsrate durch Erkrankung oder Impfung natürlich).

  • Wenn wir uns alle total isolieren, ist sie Null. Der Zinssatz ist – 100%. Daraus folgt, dass die Inzidenz ebenfalls blitzschnell = 0 ist, wegen der Inkubationszeit allerdings „erst“ nach 2 Wochen. Erst???
  • Im „normalen Leben“ wäre sie angeblich 3 (= 200%) (ohne Immunität).
  • Wenn wir jeden Tag alle Menschen, die wir treffen, knutschen oder ihnen kräftig ins Gesicht spucken, kriegen wir sie vielleicht auf 20. Ich gebe aber zu, dass ich das nicht ausgerechnet habe.
  • Die neue Variante erhöht die Reproduktionszahl -bei gleichbleibendem Verhalten- um ca. 50%, also anstatt 0.8 auf 1.2. Klingt völlig harmlos, nicht?
    20 % Negativzins werden zu 20% Positivzins. Wie gesagt, pro Woche.

Bisher nicht explizit angesprochen: Die Reproduktionszahl (der Zinssatz) mag konstant sein. Nach o. a. Logik führt das aber unweigerlich zu einer unglaublich progressiven/degressiven Kurve der Inzidenz (Zinslast).  Die Kurve des exponentiellen Wachstums ist selbstähnlich: Jeder Erhöhung oder Verringerung dauern gleich lange. Also dauert die Verringerung von 50 auf 25 genauso lange wie von 100 auf 50. Und so verhält es sich von 10 auf 5. Äußerst ermüdend und intuitiv nicht zu begreifen.

Daher eine kleine Grafik. Obacht: Ich habe als Start- bzw. Endpunkt einen einzigen ansteckenden Infizierten angenommen. Starten Sie das Ganze mit der aktuellen Fallzahl und wird es vollends gruselig!

Lesen Sie es so: Ca. 30 Wochen, also sieben Monate passiert offenbar nichts, alle wiegen sich in Sicherheit und fordern/versprechen Lockerungen. Ministerpräsidenten streiten sich über Luftschlösser, jeder will sich profilieren und vor Allem nicht der Kanzlerin folgen wegen vollkommen missverstandener Eigenständigkeit und Föderalismus. Und dann kracht es durch die Decke, und alle reiben sich die Augen. Zumindest alle, die heute im gesellschaftlichen Diskurs den Ton angeben.
Wissenschaftler und Ingenieure sind nicht erstaunt. Auch Frau Dr. rer. nat. Merkel kennt die Gesetzmäßigkeiten, man lese nur mal den Titel ihrer Dissertation. Aber sie kann es nicht rüberbringen.

Die Mathematiker haben für uns nämlich den Trick der logarithmischen Darstellung erfunden, in der auf der Y-Achse nicht der Wert aufgetragen wird, sondern seine (Zehner-) Potenz. In dem Fall ist der Abstand zwischen 1 und 10 so groß wie zwischen 10 und hundert. Da sieht man so etwas viel früher:

Vom ersten Tag sieht man das Desaster kommen.
Wenn doch nur Alles im Leben so furchtbar einfach wäre (für uns)! Warum nur glaubt man uns nicht, sogar Frau Merkel nicht? Meine Schlussfolgerung: Reform des Bildungssystems, Physik schon in der Grundschule! Doch das ist ein anderes Thema.

Es liegt also an uns, wieviel Zinsen wir bezahlen oder sparen. Damit ist die Formulierung, dass den Bürgern die Verantwortung nicht zugeschoben werden darf, eine groteske Verdrehung der Tatsachen: In jeder sozialen Gemeinschaft muss ein Jeder beitragen, er kann nicht immer nur nehmen, sondern muss auch geben. Man kann auch den Kategorischen Imperativ anführen oder volkstümlich: Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Oder die Binsenweisheit, dass die Freiheit des Einen aufhört, wo die des Anderen anfängt. Die kulturell eher auf das Gemeinwohl gerichteten Asiaten, auch in freiheitlich organisierten Staaten, haben das genauso verstanden.

Also ist jeder einzelne verantwortlich, dass er seine Mitmenschen nicht ansteckt. Er muss sich isolieren, solange er nicht sicher weiß, dass er nicht ansteckend ist.

Gottseidank hat der weit überwiegende Anteil der Bevölkerung das verstanden hat und setzt es mit großer Disziplin und Leidensfähigkeit um. Der Beweis ist die Reproduktionszahl. Sie wäre eindeutig höher, wenn die unerkannt Infektiösen sich benehmen würden wie immer.

Die Politik hat nun die Aufgabe, diese aktive Mitarbeit durch Aufklärung und Motivation zu erhöhen und – die kleine, aber laute undemokratischen Minderheit zu disziplinieren.

II Logische Schlussfolgerung

Der wirksamste und schnellste Weg ist, die Ansteckung und damit die Inzidenz runterzubekommen. Zuerst.
Das triviale Mittel:

Das Einatmen von fremder Atemluft und das Einatmen und Anfassen von ausgeatmeten Tröpfchen unter allen Umständen unbedingt zu vermeiden,

im Amtsdeutsch: Strikte Einhaltung der L+AHA- Regeln, wegen der Inkubationszeit leider für zwei Wochen, natürlich idealerweise europaweit.

Dazu Impfen, impfen und testen, testen, testen. Beides bringt die Ansteckung runter, immer weniger Menschen sind unerkannt infektiös, immer weniger Menschen stecken an und werden angesteckt. Ein Selbstläufer.

Was nicht richtig ist oder je war: Lockdown in der heutigen Form mit lauter verwirrenden Einzelvorschriften, kein Verbot von Sozialkontakten, sozialen Begegnungen usw.. Das lenkt vom Wesentlichen ab. Wir sind ein Volk geworden, das nach Art der Winkeladvokaten überall die Schlupflöcher sucht. Ich habe tatsächlich schon gehört, dass man ja im Supermarkt nur an der Kasse den Abstand halten müsse. Völlig arglos vorgetragen.

L+AHA überall, auch zuhause. Dazu keine ungelüfteten, überfüllten öffentlichen Verkehrsmittel, keinen langen Aufenthalt in Innenräumen ohne wirksame Lüftung wie manche Büros, keine Besuche in ungelüfteten Privatwohnungen. Das schließt auch Masken und Abstand in der eigenen Wohnung ein, denn COVID-19 macht vor Verwandten nicht halt. Wer über ein eigenes Zimmer verfügt, ist besser dran.

Die Menschen müssen also auf alle Berührungen anderer Menschen ein paar Tage verzichten. Hart, aber kurz. Solange wie der Sommerurlaub, nur ohne Ballermann.

Natürlich gibt es zwingende Ausnahmen: Kleine Kinder brauchen eine Person, Pflegebedürftige und Kranke voneinander isolierte Ärzte und Pfleger. Das bedeutet, aber nur, dass die Inzidenz nicht auf Null gehen wird und man darüber diskutieren muss, ob vier Wochen nicht doch besser sind. Mehr auf keinen Fall.

Das Ganze ist aber deutlich weniger hart als es klingt! Man darf mehr als in allen Lockdowns, die man uns beschert hat.  Man darf sich treffen und reden an der frischen Luft, im Wald, gerne auch auf der Restaurantterrasse, in Räumen mit messbar ordentlicher Lüftung, auch Restaurants, Kinos, Fitnessstudios, auch in der eigenen gelüfteten Wohnung, kurzum überall, wo die L+AHA Regeln eingehalten werden können, s.  COVID-19: „Nicht die AusgangsSPERRE ist die Lösung, sondern die AusgangsPFLICHT“. Bei Friseuren geht das ja offenbar auch!

Trotz dieser vordergründigen „Lockerungen“ kämen wir so auf eine Inzidenz von geschätzt um die Eins. Wir würden die Reproduktionszahl dann weiter drücken durch intensives Suchen der wenigen ansteckenden Personen über Schnelltests und Kontaktverfolgung. Wir könnten Diejenigen mit rechtsstaatlichen Mitteln verfolgen, die auf ihr Recht auf Ansteckung Fremder bestehen, in meinen Augen fahrlässige Körperverletzung.

1 anstatt 70 und wir könnten alles wieder öffnen, längst bevor die Impfkampagne anschlägt. Alle können wieder Geld verdienen und leben, auch die in den Freizeitbranchen. In nur 3-4 Wochen konsequentem L+AHA! Schneller und damit billiger geht es mit keiner anderen Methode.

Soweit die schiere Logik. Jetzt sagen natürlich alle, es sei unrealistisch, nicht durchsetzbar, schon gar nicht europaweit. Die ewigen Bedenken, der ewige deutsche Pessimismus, weil es nur logisch, aber nicht empirisch bewiesen ist und vielleicht doch 4 Wochen und drei Tage dauert bis zur Inzidenz 1?  Wo bleibt die Zuversicht? (0% machen doch mit oder verlangen Verschärfung! Ist der Schrecken ohne Ende wirklich so alternativlos?

Anders: Kennen Sie jemanden, der mit 20% Zinsen in der Woche zurechtgekommen ist (oder sie tatsächlich mit legalen Mitteln erwirtschaftet hat)?

Dann schreiben Sie mir. Ebenso, wenn Sie einen Fehler gefunden haben in meiner Logik. Dann können wir gemeinsam im Diskurs herausfinden, was wirklich ist. Ich wäre ja so froh, nicht recht zu haben!

Was ich nicht mehr erfahren möchte: Abwertende Bemerkungen über unbrauchbare, weil theoretische Wissenschaftler und Techniker von denselben Leuten, die gleichzeitig technische Produkte benutzen.