Autor: Heinz-Jürgen Althoff 
Datum: 02.09.2019

Einführung

Anders als in der traditionellen Führung von weitgehend uniformen Teams wie Fachabteilungen werden zur Führung interdisziplinärer Teams andere Fähigkeiten und Verhaltensweisen gefordert: Nicht mehr die fachliche Detailkompetenz des Leiters, sondern seine Übersicht und das Verständnis für die Schnittstellen zwischen den Disziplinen sind ausschlaggebend für den Erfolg. Da damit aber die fachliche Kontrolle sehr viel schwerer bis unmöglich wird, muss eine ausgeprägte Vertrauensatmosphäre geschaffen werden bis hin zu einer positiven Fehlerkultur. Einer Kultur, in denen Fehler niemals genutzt werden dürfen, Kollegen zu blamieren, sondern ausschließlich dazu, die Ursachen nachhaltig abzustellen.

Wenn man etwas weiter denkt, stellt man allerdings fest, dass selbst vermeintliche Fachteams in Wirklichkeit interdisziplinäre Teams sind und als solche geführt werden müssen.

Generalistisches Wissen vs. Fachwissen

Die Leitung eines Interdisziplinäre Teams unterscheidet sich erheblich von der Leitung einer Fachabteilung und erfordert spezielle Kenntnisse und Verhaltensweisen. Warum? Weil der Leiter des Fachteams nach traditionellen Vorstellungen mindestens so tiefes Fachwissen hat wie seine Mitarbeiter und damit alle Details unmittelbar entscheiden kann. Dass dieses traditionelle Verständnis heutigen Anforderungen ebenfalls nicht gerecht wird, werde ich weiter unten wieder aufgreifen.

Dagegen haben interdisziplinäre Teams die Eigenheit, dass der Leiter niemals alle technischen Details seiner Spezialisten kennen kann, schon gar nicht hat er mehr oder tieferes Wissen als seine Kollegen. Also ist darauf angewiesen, das Wissen seines Teams zu erkennen, zu nutzen, zu bündeln und dafür zu sorgen, dass aus den verschiedenen Disziplinen jeweils die optimalen Lösungen für das Gesamtsystem kommen, ohne den Spezialisten „das Wasser reichen zu können“.

Wie macht man das?

Zunächst einmal dadurch, dass man das vermeintliche Manko des unterlegenen Wissens vor dem Team und vor allem vor sich selbst offen zugibt. Dem Rest der Organisation und vor allem hierarchisch orientierten Menschen muss man das nicht unbedingt auf die Nase binden, aber im Team muss Klarheit herrschen, schon um das Wissen der Mitarbeiter hervorzulocken. Das allerdings ist für Viele leichter gesagt als getan! Ich selbst habe erfahren, dass das Zugeben von Nichtwissen in manchen Unternehmenskulturen als massive Schwäche empfunden wird. Wer in der Heldenkultur der allwissenden Führungskraft sozialisiert wurde, erlebt dieses offene Zugeben von Nichtwissen oft als Zumutung und Schwächung seiner Autorität, die er zunächst nicht auszugleichen weiß.

Dabei ist der Ausgleich für die erfahren Leiter interdisziplinärer Teams gar nicht schwer:
Als Erstes braucht es Vertrauen und Respekt. Mit der (traditionellen) Vorgehensweise der Detailvorgabe und -kontrolle kommt man nicht sehr weit, also muss man den Kollegen glauben und – ihnen vertrauen. Es hilft gar nichts, alles nachkontrollieren zu wollen, denn dem durch die Kontrolle demotivierten Mitarbeiter ist es ein Leichtes, Details vorzuenthalten oder sogar zu sabotieren. Kaum möglich, das zu verhindern! Also muss man vertrauen und daran glauben, dass jeder Kollege sein Bestes tut, allerdings jeweils auf Basis seines eigenen Wissensstandes und Verständnisses der jeweiligen Teamaufgabe, nennen wir es das Projekt.

Und da liegt der Schlüssel:

Die Fachleute aus den verschiedenen Disziplinen betrachten das Projekt jeweils aus ihrem Blickwinkel und die verschiedenen Sichtweisen unterscheiden sich zum Teil erheblich. Beispiel gefällig: Ein promovierter Elektroingenieur und Regelungstechniker hat mir vor langer Zeit einmal allen Ernstes eröffnet, Mechanik habe keine größeren Eigenfrequenz als 100 Hertz, also müsse man bei der Regelung auch keine höheren Frequenzen berücksichtigen. Auf meine Frage, welche Frequenzen er beim Schlagen eines Hammers auf einen Amboss oder auch beim Geigenspiel höre, blieben ihm dann allerdings Mund und Nase offenstehen. Endgültig überzeugt hat ihn meine spitze Frage, warum er denn bei seiner HiFi-Anlage auf 20.000 Hz Eckfrequenz bestehe, wo doch die mechanische Nadel nur maximal 100 Hz übertragen könne. Unnötig zu erwähnen, dass er sein Regelungskonzept ziemlich erfolgreich überdachte! Um fair zu bleiben: Vorurteile aus der mechanischen Ecke gibt es auch, nach meiner Meinung glauben gerade Elektronik-Laien an die Allmacht der Elektronik, oder Software wie Simulationsprogramme. Dass jeder Rechner nur so gut ist wie sein Programmierer und Bediener, fällt vielen schwer zu glauben.

Was bedeutet das?

Der Leiter des interdisziplinären Teams muss zwar nicht alle Details kennen, aber er muss genug von den Disziplinen und vor allem ihren Denkweisen verstehen, dass er weiß, wie seine Leute ticken und welche Informationen er ihnen wie aufbereiten muss, damit sie zielgerichtet arbeiten können. Denn genau das können Spezialisten und Experten nach meiner Erfahrung oft nicht: Über den Tellerrand schauen, sich in andere Disziplinen hineindenken und wirklich verstehen, wie das jeweilige Problem von der anderen Disziplin wahrgenommen wird. Wie oft habe ich erlebt, dass Spezialisten sich gegenseitig nicht verstanden und aneinander vorbeiredeten! Nicht selten führte das dazu, dass sie sich vermeintlich über die nächsten Schritte verständigten und dann fröhlich in verschiedene Richtungen arbeiteten, vollkommen überzeugt, an einem Strang zu ziehen. Bei der nächsten Zusammenkunft oder Experiment gab es dann regelmäßig lange Gesichter, wenn die Teilergebnisse einfach nicht zusammenpassen wollten.

Das ist die Chance des Generalisten.

Es geht hier nicht um Wissen, sondern darum, das Thema als Gesamtheit bis in die Verästelungen und gegenseitigen Abhängigkeiten zu begreifen und zu verstehen, was die jeweiligen Beteiligten meinen, wie sie den anderen verstehen und was sie für Schlüsse ziehen. Offen die Bandbreite der Informationen aufzunehmen und, ja, in die verschiedenen Sprachen zu übersetzen, allen die jeweilige Sichtweise und Problematik der anderen so begreiflich zu machen, dass sie sie in ihrer eigenen Welt erkennen und begreifen können. Triviales Beispiel: Wie oft redet der Regelungstechnik von Eigenfrequenz (wie auch ich oben), der gestandene Mechaniker hat aber früher vielleicht etwas von Resonanzfrequenz gehört, erkennt die Identität dieser Begriffe und versteht so die Ausführungen des Elektrikers nicht, traut sich aber nicht nachzufragen. Oder das ohmsche Gesetz: Dem Elektriker geläufig, dem Hydrauliker u. U. eher ein Graus, obwohl es in seiner Welt etwas sehr Ähnliches gibt, nämlich den Zusammenhang zwischen Druck, Widerstand und Durchflussmenge.

Bevor hier ein Missverständnis entsteht:

Der Leiter eines interdisziplinären Teams braucht zwar kein Expertenwissen, aber sehr wohl profunde Kenntnisse, um sich in Detailfragen sehr schnell hineindenken zu können. Er muss mit schneller Auffassungsgabe abstrahieren und die Fakten wirklich soweit verstehen, dass er ihre Bedeutung für das Zusammenspiel der Einzeldisziplinen bzw. Systemelemente einschätzen kann. Er muss die Fakten jeweils so in die Sprache der anderen Spezialisten übersetzen, dass diese folgen können. Er ist sozusagen selbst ein Spezialist: Ein Fachmann für das Zusammenspiel verschiedenster Disziplinen oder anders gesagt, ein Fachmann für Schnittstellen.

Nach meiner Erfahrung eignen sich in der Technik z.B. Regelungstechniker oder verwandte Berufe, denn diese werden schon in der Ausbildung trainiert, unbekannte Systeme/Objekte zu verstehen und zu regeln. Das geht soweit, dass sie sogar in der Lage sind, Organisationsstrukturen mit ihrem Handwerkszeug zu analysieren und zu verbessern, aber dies sei hier nur eine Randbemerkung.

All das gilt selbstverständlich nicht nur in der Technik.

Auch im Finanzwesen, in der Medizin, im Rechtswesen usw., haben sich Spezialisierungen herausgebildet, die alleine nicht zum Ziel führen. Auch Unternehmensführung ist nichts anderes als das Führen eines interdisziplinären Teams. Was ist ein Unternehmen anderes als eine interdisziplinäre Veranstaltung, in der die unterschiedlichsten Fachgebiete möglichst effektiv zusammenspielen müssen, um den Unternehmenserfolg zu garantieren?

Das hat natürlich Konsequenzen:

Diese gehen weit über die rein kognitiven Aspekte wie Ausbildung, Erfahrung und Auffassungsgabe hinaus Ich habe es schon angesprochen: Grundlage ist vertrauensvolle Zusammenarbeit, also eine Zusammenarbeit ohne die üblichen Ängste vor Macht- und Karrierespielchen etc., gerne „Politik“ genannt. Dieses Vertrauen wiederum bedeutet unbedingte Offenheit und Konsequenz. Alles muss auf den Tisch, vermeintlich dumme Fragen müssen ernst genommen und dürfen auf keinen Fall verächtlich gemacht oder zur Bestrafung genutzt werden. Denn nicht jeder hat den gleichen Hintergrund. Was für den Einen trivial ist, mag für den Anderen absolutes Neuland sein.
Ich selbst war immer wieder in der Situation, Mitarbeiter und auch Kunden nach technischen Details fragen zu müssen, weil man mir technisch nicht so geläufige Produkte anvertraut hat. Niemals hat sich jemand darüber negativ geäußert, die allermeisten waren sogar stolz, mit ihrem Fachwissen brillieren zu können und dankbar, von mir neue Ideen von jenseits des Tellerrandes zu hören!

Aus Fehlern lernen

Ebenso wichtig, heute an vielen Stellen diskutiert, aber kaum umgesetzt, die richtige Fehlerkultur. Fehler passieren und sind menschlich, aber man kann und muss aus ihnen lernen. Wie aber kann man erwarten, von Fehlern so schnell wie möglich zu erfahren und sie zu korrigieren, wenn man den Mitarbeitern beibringt, dass Fehler zu ihrem Nachteil bewertet werden? Entscheidend ist nämlich nicht, wer den Fehler begangen hat, sondern warum er ihn begangen hat. Einzig allein die Antwort auf diese Frage erlaubt, den Fehler beim nächsten Mal zu vermeiden. Hatte der Kollege nicht die richtige Information, war die Ursache vielleicht auch Überforderung durch Routine, eine falsche Arbeitsumgebung oder, oder, oder. Unglücklicherweise muss der betreffende Kollege dafür gefunden werden, er ist sogar zentraler Bestandteil der Fehleranalyse. Auf keinen Fall aber darf ihm auch nur im Ansatz das Gefühl vermittelt werden, dass er den Fehler beim nächsten Mal besser vertuscht und nicht zugibt. Dann nämlich wird der Fehler ein alter Bekannter und zieht sogar weitere Fehler nach sich, um die Ursache des Ersten zu verdecken. Am Ende entwickelt sich ein Minenfeld aus vertuschten Fehlern und die effektive Zusammenarbeit ist dahin. Ausnahme natürlich: Fehler wider besseres Wissen, aus Schlamperei oder sogar Absicht bis zur Sabotage. Hier muss selbstverständlich durchgegriffen werden, aber das ist aus meiner Erfahrung in einer etablierten positiven Fehlerkultur nur äußerst selten nötig und die entsprechenden Kandidaten sind schnell gefunden, auch mit Hilfe des Teams.

Fachteams sind eigentlich auch interdisziplinär

An dieser Stelle noch ein Wort zu meiner Anfangsbemerkung über die traditionelle Führung von Fachteams: So etwas gibt es heute zumindest bei Fachkräften gar nicht mehr! Das heutige Fachwissen ändert sich so schnell, dass jedes Fachteam ein im Kleinen interdisziplinäres Team ist. Also gibt es in jedem Team Mitarbeiter, die in einigen Gebieten natürlicherweise mehr Fachwissen haben als der Leiter. Für Führungskräfte ist das kein Makel, wenn sie die Chance begreifen, das Ergebnis seines Teams zu optimieren.
Dazu kommt, dass heute junge Fachkräfte größere Ansprüche an selbstbestimmtes und eigenständiges Arbeiten haben als früher. Jeder Versuch, mit traditioneller Methode des alles besser Wissens und Vorgebens zu führen, ist damit zumindest in ihrer Effektivität begrenzt.

Fazit

Jede Führungskraft ist damit gut beraten, sich als Leiter eines interdisziplinären Teams zu verstehen und mit genau denselben Prinzipien wie Vertrauen, Offenheit und positiver Fehlerkultur zu arbeiten. Dann und nur dann wird das Potential eines jeden Teammitglieds genutzt, und das trägt nicht unbeträchtlich auch zur Zufriedenheit und Produktivität der Mitarbeiter bei.

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